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Moderne Erinnerungskultur

06.05.2022

Aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen, um Verantwortung für die Gegenwart übernehmen zu können - darum geht es bei moderner Erinnerungskultur wie den Projekten #everynamecounts oder @ichbinsophiescholl.

Die Arolsen Archives sind das weltweit umfassendste Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten gegründet, bis 2019 hießen sie International Tracing Service. Floriane Azoulay, die Direktorin des Archivs, hat im egoFM Reflex-Interview mit Gloria darüber gesprochen, wie Erinnerungskultur im Jahr 2022 aussehen kann und was dabei - vor allem für die jüngere Generation - wichtig ist.

Moderne Erinnerungskultur

Die Arolsen Archives bewahren Dokumente und Aufzeichnungen über die Opfer und Überlebenden und stellen sicher, dass die Beweise der nationalsozialistischen Verfolgung nicht vernichtet werden. Damals wie heute sind sie deswegen auch Anlaufstelle für Angehörige, die mehr über die eigene Familiengeschichte wissen wollen - in einem Jahr bekommen sie über 20.000 Anfragen dieser Art. Außerdem arbeiten sie inzwischen vor allem mit jungen Menschen, hauptsächlich der Gen Z, zusammen, um gemeinsam eine Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten und Sensibilität für das Hier und Jetzt zu schaffen. Dabei setzen sie vor allem auf digitale Formate.

"Die digitalen Möglichkeiten, die es jetzt gibt, ermöglichen es uns auch, mit sehr, sehr vielen Menschen in Kontakt zu sein und mit sehr, sehr vielen Menschen zusammenzuarbeiten." - Floriane Azoulay

Ein Beispiel dafür ist die Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts

Die Initiative ist ein digitales Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus, an dem sich jede und jeder von überall aus der Welt beteiligen und Informationen zu den Opfern in die Datenbank eintragen kann. So können sich auch nachfolgende Generationen an die Namen und Identitäten der Opfer erinnern - auch wenn es keine Zeitzeug*innen mehr gibt. Die Generation Z ist grundsätzlich wirklich aufgeschlossen und interessiert sich sehr für die Geschichte des Nationalsozialismus und vor allem auch für die Täter*innenbiografien, wie eine Studie bestätigt hat. Um junge Menschen anzusprechen, ist es allerdings extrem wichtig, dass Erinnerungskultur realitätsnah und alltagstauglich stattfindet, sagt Floriane Azoulay:

"Sie [die Gen Z] wollen einfach einen Bezug zu ihrer Lebensrealität haben, sie wollen snackable content, man muss sie abholen in ihrer Lebensrealität und man muss ihnen Elemente geben, die es ihnen einfach ermöglichen, sich ein Urteil zu bilden und sich selbst das Wissen anzueignen. Und da glaube ich wirklich, dass lebensnahe, digitale Projekte eine sehr wichtige Rolle spielen können." - Floriane Azoulay

Ein weiteres Beispiel für lebendige und moderne Erinnerungskultur ist das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl. Das wurde zwar von einigen Seiten unter anderem dafür kritisiert, Geschichte zu verwässern und zu fiktional zu sein, war allerdings mit über 700.000 Follower*innen auch sehr erfolgreich und wird deswegen von Floriane Azoulay definitiv als Positivbeispiel für moderne und vor allem realitätsnahe Erinnerungskultur gesehen. Allerdings merkt sie auch an, dass diese Projekt deutlich zeigt, wie wichtig Kontext dabei ist.

Aus der Vergangenheit lernen

Sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen bedeutet auch, sich einer Verantwortung zu stellen. Wie Floriane Azoulay erzählt, wird in diesem Zusammenhang allerdings Verantwortung immer wieder mit Schuld vermischt, was dazu führt, dass Menschen auch schnell eine Abwehrhaltung einnehmen. Dabei ist für sie ganz klar:

"Niemand heute und vor allem nicht unsere Zielgruppe die Generation Z, trägt Schuld für die Taten der Vergangenheit, aber durchaus Verantwortung für die Gegenwart." - Floriane Azoulay

Floriane Azoulay betont, wie wichtig es ist, aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu lernen, um Verantwortung für das Hier und jetzt übernehmen zu können.  

"Letztendlich geht es immer wieder darum, sich zu überlegen und zu reflektieren, was heißt das für heute und was waren die Motive damals. Weil wir wissen, die Motive für Verfolgung sind nicht Geschichte. Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung gibt es heute wie damals." - Floriane Azoulay

Deswegen sieht Floriane Azoulay moderne Erinnerungskultur auch als eine Art Erkundungsraum für jüngere Menschen.

Dort können sie sich auch damit beschäftigen, warum die Täter*innen damals Täter*innen geworden sind und wofür sie selbst jetzt in der Gegenwart bereit sind, sich einzusetzen. Diese Frage ist ganz wichtig, denn wenn man sich die Geschichte anschaut, wird klar: Der Holocaust kam nicht aus dem Nichts. Deswegen ist es so wichtig, sich heute bereits "im Kleinen" immer wieder starkzumachen, sich für Opfer von Diskriminierung einzusetzen und sie zu schützen, denn:

"Antisemitismus - wie auch Rassismus und andere Phänomene der Intoleranz - gibt es seit Jahrhunderten. Gab es vor dem Nationalsozialismus und gibt es danach und es äußert sich in unserer Gesellschaft in wirklich allen sozialen Schichten, aus allen politischen und religiösen Richtungen, es kommt latent oder offen daher und leider auch immer offener in den sozialen Medien. Es reicht von rassistischen, antisemitischen Äußerungen bis, wir haben es gesehen, zu körperlichen Übergriffen und Terror. "Nie wieder" immer wieder zu wiederholen, reicht natürlich nicht aus." - Floriane Azoulay

Damit wir uns allerdings gegen diskriminierendes Verhalten stark machen können, müssen wir Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung erst mal erkennen. Nur wer sensibilisiert für Intoleranz ist und weiß, wie vielfältig und unterschwellig diese auftreten kann, kann auch aktiv gegen diese vorgehen:

"Ich glaube, da muss noch sehr viel Arbeit geleistet werden, auf vielen Ebenen, um zu verstehen, was Rassismus ist, was Antisemitismus ist und welche Formen das annimmt. Da muss noch sehr viel Arbeit [...] gemacht werden, damit es einfach besser erkannt wird. " - Floriane Azoulay