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Jüdisches Leben in Deutschland

02.09.2022

Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Sophia von Meet A Jew

Am Sonntag ist Europäischer Tag der Jüdischen Kultur – ein Aktionstag, der jedes Jahr am ersten Septemberwochenende stattfindet.

Meet A Jew

Zum Europäischen Tag der Jüdischen Kultur gibt es in vielen Städten und Gemeinden Aktionen, Ausstellungen, Führungen in Museen, Lesungen, Filme… Aber was bedeutet eigentlich jüdische Kultur? Wie wird die in Deutschland gelebt und wie sichtbar ist die jüdische Community hier eigentlich? Denn auch dazu soll der Aktionstag beitragen, mehr Sichtbarkeit. egoFM Gloria spricht bei egoFM Relfex mit Sophia. Sie ist Doktorandin der Wirtschaftsgeschichte an der Uni Mannheim, jüdisch und macht mit beim Begegnungsprojekt Meet A Jew.

Mehr als Religion

Jüdische Kultur bedeutet für Sophia viel mehr als "nur" der Glaube, denn man kann auch jüdisch sein, wenn man den Glauben nicht praktiziert. Vielleicht erinnerst du dich ja noch an die Basics aus dem Ethikunterricht. Wenn nicht, gibt es hier von Sophia noch einmal eine kleine Auffrischung: Das Judentum besteht sozusagen aus drei Säulen, die Religion ist nur eine Säule davon. Die zweite Säule des Judentums ist, dass es ein Volk ist, was aber recht schwierig zu erklären ist, weil das Judentum meist nur als eine Religion gesehen wird.

"Aber das Judentum ist auch eine Ethno-Einheit. Also wirklich eine Bevölkerung, ein Volk an sich. Das Judentum - bevor es den Staat Israel gab - war halt quasi immer das Volk ohne Land. Es war immer das Volk des Buches. Durch die Diaspora leben Juden bis heute überall auf der Welt zerstreut." - Sophia

Deswegen ist diese zweite Säule ein wichtiger Bestandteil des Judentums. Juden und Jüdinnen zu sein bedeutet also nicht nur, eine religiöse Strömung des Judentums zu praktizieren, sondern ein Teil des jüdischen Volkes zu sein. Die dritte Säule beschreibt die Kultur des Judentums. Dazu zählt alles von Literatur, Kunst und Musik, zu dem Juden und Jüdinnen beitragen. Unter anderem auch, weil dieser enorme Beitrag häufig vergessen wird, gibt es den Europäischen Tag der Jüdischen Kultur. Das reicht von Klezmer bis zu modernen Fernsehserien. Sophia denkt bei jüdischer Kultur zum Beispiel direkt an Larry David, aber auch sonst spielt jüdische Kultur in ihrem Leben eine große Rolle und begegnet ihr überall immer wieder.

"Ich bin ein großer Filmmusik-Fan. Es gibt extrem tolle Komponisten - Nicholas Britell, Howard Shore, der die Musik gemacht hat für Herr der Ringe. Das sind so Sachen, die für mich auch zur jüdischen Kultur zählen, auch wenn sie jetzt nicht auf den ersten Blick damit zutun haben." - Sophia

Und auch Feiertage gehören für Sophia mit zur jüdischen Kultur. Durch den jüdischen Kalender wird auch das Leben ganz anders strukturiert als durch den gregorianischen Kalender.

"Jüdische Feiertage wie Purim, wie Chanukka - da ist extrem viel Brauchtum dahinter. Selbst wenn man nicht in die Synagoge geht, um die Feiertage zu begehen, steckt da trotzdem extrem viel Tradition dahinter. Es gibt zu jedem Feiertag effektiv ein passendes Gericht dazu. Und verschiedene Traditionen, was man dann irgendwie für Kinder macht, mit der Familie. Und das gehört selbstverständlich auch zur Kultur dazu und ist mir auch sehr wichtig." - Sophia

Wie sichtbar ist die jüdische Community in Deutschland?

Heute leben wieder geschätzt 150.000 Juden und Jüdinnen in Deutschland. Jüdisches Leben in Deutschland ist aber immer noch wenig sichtbar und das will zum Beispiel der Aktionstag Europäischer Tag der Jüdischen Kultur oder auch das Begegnungsprojekt Meet A Jew ändern, das vom Zentralrat der Juden vor zwei Jahren initiiert wurde. Auch Sophia ist bei diesem Projekt schon von Anfang an mit dabei und berichtet zum Beispiel in Schulen von ihrem Alltag. Für sie ist es wichtig, dass das Judentum nicht nur in Geschichtsbüchern widergespiegelt wird.

"Dadurch entsteht das Narrativ, dass Juden Opfer sind und dass Juden vertrieben worden und dass es sie nicht mehr gibt. Und es wird nicht darüber gesprochen, dass es Juden aktuell in Deutschland gibt. Dass es sie sofort nach dem Nationalsozialismus in Deutschland wieder gab und dass es sie seitdem gibt." - Sophia

Dieses Narrativ möchte Sophia aktiv mit ändern. In Deutschland kommen die meisten Menschen mit dem Judentum nur über Bücher in Kontakt. Deswegen will das Projekt Meet A Jew Begegnungspunkte und einen Austausch schaffen. Außerdem sagt Sophia, dass das Projekt helfen soll, Vorurteile abzubauen - schließlich kann hier jede*r mal offen seine Fragen stellen. Auch sie selbst lernt dabei immer wieder Neues.

Über die Geschichtsbücher hinaus

Die Grünen-Politikerin Marina Weisband hat mal gesagt, "außerhalb des Gedenkens finden wir nicht statt". Ihr wäre es lieber "Vielleicht auch mal mit uns [zu] reden, wenn es nicht um den Holocaust oder Antisemitismus geht". Das sieht auch Sophia ähnlich.

"Sehr häufig, gerade im Feuilleton, auf Twitter und so weiter, wird gerne über Juden gesprochen. Aber wenn die dann tatsächlich mal mitreden wollen, dann besteht da irgendwie eine Barriere." - Sophia

Einerseits kann Sophia das nicht wirklich nachvollziehen, anderseits sagt sie aber auch, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sehr klein ist, was den Diskurs etwas erschwert.

Wie sicher ist das Leben für Juden und Jüd*innen in Deutschland heute?

Antisemitische Angriffe, verbal und auch physisch, haben in der letzten Zeit dramatisch zugenommen, warnen jüdische Organisationen. Und auch die Zahlen belegen das: Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist laut der Bundesregierung im Jahr 2020 um gut 15 Prozent angestiegen – im Jahr 2021 gab es über 3000 antisemitische Straftaten. Angesichts wieder steigender antisemitischer Übergriffe und Gewalttaten haben jüdische Eltern Angst, ihre Kinder mit Kippa in die Schule gehen zu lassen, weil der Schulweg zu gefährlich ist. Manche sprechen sogar von einer Art Exodus junger Jüdinnen und Juden, die nach dem Schulabschluss aus Deutschland auswandern, zum Beispiel nach Israel, weil sie hier keine Zukunft für sich sehen. Ganz persönlich fühlt sich Sophia in Deutschland auch im Jahr 2022 sicher. Allerdings weiß sie von Freund*innen, die direkt angegangen worden sind, dass diese sich nicht sicher fühlen.

"Also, ich kenn Leute, die die doppelte Staatsbürgerschaft haben mittlerweile und die vielleicht für ein halbes Jahr oder ein Jahr nach Israel ins Kibbutz gehen, um da halt quasi mal auch ein bisschen Selbstfindung zu betreiben und dann halt auch einfach mal im Ausland zu leben und wirklich im einzigen jüdischen Staat der Welt zu leben. Aber von einem Exodus hör ich persönlich zum ersten Mal. Was mir eher bewusst ist, ist die Tatsache, dass aus Israel extrem viele Juden nach Berlin kommen." - Sophia

Sehr viele israelische Juden und Jüdinnen möchten gerne im Ausland leben und Berlin ist tatsächlich sehr beliebt, sagt Sophia. Das zeigt, wie gespalten das Bild ist, wie Deutschland in Bezug auf das jüdische Leben wahrgenommen wird. Trotzdem kommt das Thema Antisemitismus auch bei den Gesprächen mit Schüler*innen bei dem Projekt Meet A Jew immer wieder zur Sprache. Hier empfiehlt Sophia, dass man einfach wachsam sein soll - und sich auch einmal einzumischen. Außerdem empfiehlt sie den Schüler*innen - gerade auch mit Blick auf Social Media immer wieder:

"Hinterfragt das. Lasst euch von niemanden eure Meinung diktieren. Lest einfach und informiert euch über Sachen. Nehmt Positionen nicht einfach so an, nur weil sie euch von irgendjemanden erzählt werden. [...] Und was ich ihnen aber auch sage ist: Bitte mischt euch auch ein, wenn ihr einfach Zeuge von Unrecht werdet. Es kann nicht sein, dass 'Jude' als Schimpfwort benutzt wird und dann sagt niemand was dazu." - Sophia

Jüdinnen und Juden leiden immer noch – und sogar wieder zunehmend – unter verschiedenen Formen von Gewalt. Das wird oft unter dem Begriff Antisemitismus zusammengefasst. Wie dieser Begriff eigentlich definiert ist und woher er kommt, erfährst du hier im egoFM Reflexikon.

Mehr Zivilcourage wünscht sich Sophia aber generell auch für andere marginalisierten Gruppen.

"Wenn man aus der Mehrheitsgesellschaft kommt, dass man eine Verantwortung und den Respekt den Minderheiten gegenüber hat, dass man sich schützend vor die stellt und halt nicht einfach die Klappe hält und so tut, als ob man nichts mitbekommt." - Sophia