Anasyrma
Weil Feminismus alle was angeht
Eine zeitlose Geste der Rebellion
Der Begriff Anasyrma kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet "sich die Kleider hochziehen, sich entblößen" und bezeichnet ursprünglich das rituelle, selbstbestimmte Entblößen des weiblichen Geschlechts (oder des Hinterns), mit dem Ziel, Böses abzuwehren. Das hat eine lange Tradition und in Geschichte, Kunst, Literatur, Religion und Mytholohie finden sich dafür Beispiele aus aller Welt - auch, wenn diese nicht immer als Anasyrma bezeichnet oder überhaupt als solches erkannt wurden.
Auf dem Gemälde "Die persischen Frauen" von Otto van Veen (1629), ein Kunstwerk aus der Rennaissence, ist ein Anasyrma aus dem 6. Jahrhundert abgebildet:
Auf der Illustration von Charles Eisen (1896) zum Gedicht "The Devil of Pope-Fig Island" (Jean de La Fontaine) wird mit dem hochgezogenen Rock sogar der Teufel höchstpersönlich abgewehrt. Und Steinreliefs und Skulpturen von Frauen, die ihre – äußerst übertrieben dargestellte - Vulva präsentieren, sollen ebenso den Zweck gehabt haben, den Tod und das Böse fernzuhalten. Zu finden sind diese sogenannten Sheela-na-Gigs über Türen oder Fenstern an der Fassade von Kirchen und Burgen aus dem 11. und 12. Jahrhundert in Irland, Großbritannien und Europa.
Auch in der Mythologie verschiedenster Kulturkreise finden sich immer wieder Geschichten des Anasyrma, so zum Beispiel in der Erzählung von Bellerophon, Poseidons Sohn: Als Bellerophon auf seinem Pegasus auf dem Weg zum Palast von Iobates war, um das Königreich zu zerstören, kamen die xanthischen Frauen und zogen ihr Röcke hoch, woraufhin Bellerophon floh. Der irische Held Cú Chulainn soll etwas ähnliches erlebt haben und auch in der Geschichte von Baubo und der Göttin Demeter spielt ein Anasyrma eine entscheidende Rolle, um nur ein paar Geschichten zu nennen.
Auf diese und weitere Beispiele geht die Autorin Catherine Blackledge in ihrem Buch The Story of V (2003) ein, in dem sie sich aus wissenschaftlicher und historischer Perspektive mit der Vulva auseinandersetzt. Auch in ihrem neuen Buch Raising the Skirt (2020) beschäftigt sie sich mit der Kraft der Vulva.
Mit diesen selbstbestimmten und stolzen Enthüllungen haben Frauen die Welt gerettet, den Teufel vertrieben und Unheil abgewendet - nur haben viele Menschen von diesen Beispielen noch nie etwas gehört. Dabei kann allein die Auseinandersetzung und die Verbreitung dieser Geschichten und Kunstwerke etwas in der Wahrnehmung der Vulva verändern und einen Gegenentwurf zum patriarchalen Bild des weiblichen Geschlechts schaffen, sagt Catherine Blackledge.
"Imagine a world where as girls we're told these incredible stories - in mythology about the goddesses raising their skirts, and in doing so making the world fertile again, or they raise their skirts and they can defeat armies." - Catherine Blackledge
Im 20. Und 21. Jahrhundert wird die Kunst des Anasyrma dann weniger rituell und mehr als Zeichen des Protests und Form des Aktivismus aufgegriffen, meist konkret gegen das Patriarchat gerichtet. Dabei ist vor allem der Akt der Umkehrung wichtig: Frauen entblößen ihr Geschlecht selbstbestimmt als Zeichen der Stärke. Das ist ein kraftvolles Symbol, denn seit dem Sieg der monotheistischen Religionen wird die Vulva vor allem mit Sünde und Schwäche verbunden, sie als Akt der Stärke offen zu zeigen ist deswegen ein effektives, neues Framing.
Politischer Aktivismus
Die Kenianerin Mary Nianjiru hob 1922 bei einem Streik zur Freilassung des Aktivisten Harry Thuku ihr Kleid und entblößte ihr Geschlecht. Anschließend wurde sie von Polizisten der Kolonialtruppen erschossen. Aktionen wie diese werden von dem Volk Kikuyu als "guturamira ng'ania" (wörtlich: "jemand durch Entblößen verfluchen") bezeichnet und sollen Verachtung gegenüber Männern ausdrücken. Es ist für sie ein extrem starkes Symbol, das eine Frau gegen das patriarchalische System einsetzen kann.
2016 führte die polnische Künstlerin Dr. Iwona Demko eine Gruppe von Frauen an, die bei Anti-Abtreibungs-Demonstrationen in Polen ihre Röcke hochhoben. Sie sagte der Autorin Catherine Blackledge, sie und ihre Mitprotestierenden hätten das getan,...
"...to stop being ashamed. To recall the lost meaning of women and femininity. To restore the value of power resulting from the ability to give birth to a new life. To emphasise our importance … It was a perfect act to give us courage." - Dr. Iwona Demko
Ein Gemälde der Künstlerin Amanda Sage, das eine Frau zeigt, die ihren Rock hochhebt und schreit, erschien 2017 auf Transparenten beim Frauenmarsch in Los Angeles. Sage sagte:
"I lift my skirt to oppression and dishonesty, to lies and deceit." - Amanda Sage
Im selben Jahr wurde in Italien mit Anasyrma-Demonstrationen gegen Geschlechterdiskriminierung und männliche Gewalt gegen Frauen protestiert.
Auch in der gegenwärtigen Kunstwelt hat Anasyrma einen Platz
Deborah De Robertis hat die Kraft des Anasyrma beispielsweise genutzt, um sich gegen die patriarchale Ordnung innerhalb der Kunstwelt zu stellen. Sie sagt: "Mein Geschlecht öffnen heißt meinen Mund öffnen". 2014 setzte sie sich in ihrer Performance "Miroir de l’origine" ("Spiegel des Ursprungs") im Musée d’Orsay in Paris vor das Gemälde "L’Origine du monde" ("Ursprung der Welt") von Gustave Courbet und präsentierte ihre geöffnete Vulva.
Das ist ihre Message an die patriarchale Ordnung der Kunstwelt, aber auch an die der Gesellschaft. Das offene Geschlecht offenbare dem Betrachter seine eigene Gewalt, beschreibt Deborah De Robertis in einem Interview. Auch im EU Parlament mit ihrer Performance "Europe is watching you" oder in diversen anderen Kunstinstitutionen hat Deborah de Robertis mit ähnlichen Performances polarisiert.
Und sie ist nicht die einzige zeitgenössische Künstlerin, die Anasyrmata umsetzt
Auch in der Kunst von beispielsweise Amanda Joy Calobrisi aus Chicago, der irischen Fotografin Nicola Canavan, den Werken von der Serbin Marina Abramovic oder der Polin Iwona Demko wird das Symbol des Anasyrma auf die ein oder andere Weise interpretiert.
Die Kraft der Vulva
Im Mittelpunkt des Anasyrma steht die geöffnete Vulva, die quasi seit je her mit Scham und Stigma behaftet wurde, für die es so viele unnötige Euphemismen gibt und über die so viel Wissen fehlt. Obwohl - oder vielleicht gerade weil - sie Ausdruck weiblicher Stärke ist.
"I think there's a moment that every person born with a vagina shares, and that is when you realize that you are treated differently to people who have a penis, that you are not treated with the same level of respect. I do think women were all wounded in some way. We feel negative about our genitalia, because it seems to be the source of why we are treated differently." - Catherine Blackledge
Das weibliche Geschlecht an sich ist keine Schwäche, das wird bei einem Anasyrma deutlich: die Vulva ist nicht sündhaft, schambesetzt und schwach, sondern wird zu einem Symbol der Stärke und des Widerstands. Die Frauen lassen sich nicht den Rock heben, sie tun es selbst, beschreibt es Deborah de Robertis.
Ein Anasyrma ist also einerseits ein traditionsreiches, jahrtausendealtes Symbol und andererseits ein moderner Akt der Selbstermächtigung im politischen, aktivistischen und künstlerischen Kontext. Und ja, das Anasyrma ist sicherlich eine Kunst- und Protestform, zu der nicht jede*r einen Zugang findet. Aber zumindest einen starken ersten Moment der Irritation und Verblüffung schafft ein Anasyrma vermutlich bei fast allen Betrachter*innen.